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Little Joe – Glück ist ein Geschäft

Geschrieben von Peter Gutting am 5. Dezember 2019

Vor zehn Jahren ließ Jessica Hausner ein Wunder geschehen. In ihrem Film „Lourdes“ konnte die an den Rollstuhl gefesselte Kranke plötzlich aufstehen und ein paar Schritte gehen. Aber war da wirklich etwas Übernatürliches geschehen, oder nur eine vorübergehende Besserung eingetreten, wie sie bei Multipler Sklerose tatsächlich geschehen kann? Die österreichische Regisseurin hatte offenbar Vergnügen daran, die Dinge nicht eindeutig festzuzurren, sondern mit unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten zu spielen. Das verbindet „Lourdes“ mit ihrem neuen Film, in dem auch so etwas wie ein Traum wahr wird. Was allerdings mit einem visuell betörenden Alptraum einhergeht.

Ein Gentechniklabor, wie es sich der Laie in seinen schlimmsten Ängsten ausmalt: Sanft kreist die Kamera über den steril wirkenden Pflanzen, die zu Hunderten in klinisch anmutender Hygiene und absoluter Überwachung in einem Hochsicherheitstrakt herangezogen werden. Die langsame Bewegung des Bildes macht nicht wirklich schwindlig, aber sie löst eine leichte Irritation aus, verschiebt die Wahrnehmung einen Tick ins Surreale. Befördert wird das Gefühl des Unheimlichen durch den Soundtrack. Dort erklingt einerseits eine Panflöte, einlullende Harmonie verströmend. Aber das Instrument wird konterkariert von schriller Dissonanz: ein elektronischer Ton, verzerrt, störend, aufwühlend.

Schon der Missklang auf der Tonspur nimmt vorweg, was die genmanipulierte Pflanze auszeichnet, die von ihrer Erfinderin „Little Joe“ genannt wird. Sie soll durch ihren Duft Glück verströmen – eine Art Antidepressivum, das mittels des Hormons Oxytocin die Menschen in ihrer Bindungsfähigkeit stärkt, sie mit sich und anderen zufrieden macht. Dieser Stoff ist keineswegs Science Fiction. Es handelt sich genau um die chemische Verbindung, die die Mutter-Kind-Bindung biologisch unterstützt beziehungsweise herbeiführt. „Little Joe“, so hoffen die Wissenschaftler, könnte die gesamte Menschheit ins Glücksparadies führen – und Milliarden in die Kasse ihres Unternehmens spülen. Aber wirkt die Pflanze tatsächlich derart heilsbringend wie die Quellen von Lourdes? Oder machen sie das traute Heim zu einem „kleinen Horrorladen“?

Ironischerweise ist Alice (Emily Beecham), die Erfinderin von „Little Joe“ nicht rundum glücklich mit dem Oxytocin-Hormon. Ja, die allein erziehende Wissenschaftlerin, liebt ihren 13-jährigen Jungen Joe (Kit Connor) über alles. Und ja, sie liebt auch ihre Arbeit über alles. Möglicherweise sind es die typischen Schuldgefühle einer arbeitenden Mutter, die sie dazu bringen, eine der manipulierten Pflanzen verbotenerweise mit nach Hause zu nehmen, sie Joe zu schenken und ihm zu Ehren „Little Joe“ zu nennen. Jedenfalls sehen wir Alice immer mal wieder bei einer Psychiaterin sitzen, ohne genau zu erfahren, was eigentlich ihr Problem ist.

Natürlich könnte es sein, dass man in einer Berufswelt wie der von Alice gar nicht mehr ohne professionelle Unterstützung auskommt. Äußerst subtil schildert die stilistisch ausgefeilte Inszenierung den beinharten Konkurrenzkampf, der hinter dem modernen Teamgeist-Dogma á la „Wir sind alle eine große Familie“ lauert. Nur mit durchgearbeiteten Wochenenden lässt sich hier überleben. Wer strauchelt, landet schnell in der Klapse und wird nach erfolgter Genesung mit minderwertigen Jobs abgespeist. Jessica Hausner und ihr Kameramann Martin Gschlacht brauchen keine Dialoge, um den Mobbing-Horror einzufangen. Das besorgen schon die exquisit gerahmten Bilder, das ausgeklügelte Farbkonzept und die aussagestarken Kostüme, für die Hausners Schwester Tanja Hausner verantwortlich zeichnet.

Zugleich steht die betörende Visualität für eine Künstlichkeit, die den Realismus tatsächlich existierender Probleme – Gefahren der Gentechnik, Fetischisierung der Glückssuche, hemmungslose Profitgier – in eine Sphäre der Doppel- und Mehrdeutigkeit überhöht. „Little Joe – Glück ist ein Geschäft“ legt sich bewusst nicht fest, weder auf einen Genre-Mix noch auf seine Themen und schon gar nicht auf eine Art Aufklärungskino. Der Film streift die Muster von Science Fiction, Thriller und Mystery, aber nur, um gängige Erwartungen letztlich zu enttäuschen. Er nimmt Feminismus, Gesellschaftskritik und Zukunftsangst ernst, ohne sich darin zu erschöpfen. Kurzum: Er verführt den Zuschauer mit ebenso schönen wie unheimlichen Bildern, um ihm genau das abzuverlangen, was in der „schönen neuen Welt“ gentechnischer Zwangsbeglückung nicht mehr gefragt ist: selber zu denken und sich an dem eingestreuten Humor zu freuen, mit dem Hausner Distanz zur erzählten Geschichte schafft. So gesehen sind viele Lesarten möglich, keine ist richtig oder falsch.

„Little Joe – Glück ist ein Geschäft“ legt in seinem Untertitel eine falsche Fährte. Jessica Hausners Mutter-Sohn-Drama lässt sich keineswegs auf naheliegende Gentechnikkritik oder die Warnung vor einem Orwell-Staat reduzieren. Der visuell und durch seinen Soundtrack betörende Film verführt zu einer Reise in die Mehrdeutigkeit, die dem Zuschauer mehr zutraut als viele andere gesellschaftskritischen Filme.

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Copyright: X-Verleih

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Länge: 105 min

Kategorie: Drama, Sci-Fi

Start: 09.01.2020

cinetastic.de Filmwertung: (8/10)

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Info

Little Joe – Glück ist ein Geschäft

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 105 min
Kategorie: Drama, Sci-Fi
Start: 09.01.2020

Bewertung Film: (8/10)

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