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Ausgeflogen

Geschrieben von Peter Gutting am 4. Juni 2019

Die Schauspielerin Sandrine Kiberlain kennt man überwiegend aus nachdenklichen, leicht melancholisch angehauchten Rollen. Etwa als alleinstehende, Geige spielende Lehrerin in Stephan Brizés „Mademoiselle Chambon“ (2009). Im neuen Film von Lisa Azuelos hingegen darf sie eine ganz andere Seite ausleben: überdreht, chaotisch, ausgeflippt. Und das als berufstätige, allein erziehende Mutter von drei Kindern, die eigentlich überdiszipliniert sein müsste, um ihren bis an den Rand mit Pflichten gefüllten Alltag zu meistern. Aber wir können auch anders, scheinen die Darstellerin und Regisseurin den Müttern dieser Welt zuzurufen. In einer manchmal idyllischen, überschwänglichen Hommage auf die vaterlose Familie.

Nur gefühlte fünf Minuten braucht der Film, um die etwas anderen Erziehungsprinzipien der Restaurantbesitzerin Héloise (Sandrine Kiberlain) scharf zu umreißen. Ein chaotischer Morgen, Mutter und Tochter Jade (Thaïs Alessandrin) haben verschlafen. Große Schreierei, denn Jade hat heute ihr Probe-Abitur. Die Mutter versucht, ihren Fehler wieder gut zu machen. Im geliehenen Auto und Affentempo geht’s Richtung Schule. Aber natürlich steht an der Ecke der Polizist, der die beiden wegen der Raserei rauswinkt. Erster Auftritt von Madame Héloise: Sie habe ihre Periode, alles sei voll Blut, nur deshalb sei sie so schnell gefahren. Wieder daheim, schickt sie der Tochter noch schnell eine SMS als kleine Hilfestellung für die Prüfung. Auch das geht schief und es folgt Auftritt Nummer zwei: Vor der strengen Rektorin, die sich über die verlotterten Verhältnisse und die offensichtliche Kumpanei echauffiert, schaltet Héloise im Beisein ihrer Tochter erneut in den Schauspielmodus. Die vermeintliche Standpauke, die sie dem Zögling hält, lässt selbst die grimmige Rektorin zusammenzucken. Nur Mutter und Tochter wissen per Augenzwinkern, dass sie weiterhin Freundinnen sind.

Freudianer würden das Verschlafen für eine typische Fehlleistung halten. Denn Nesthäkchen Jade, die jüngste der drei Geschwister, will nach bestandenem Abitur in Kanada studieren. Die großzügige Pariser Wohnung wäre dann endgültig leer. Héloise, die außer kurzen Affären bisher keinen Mann in das Familienleben gelassen hat, wäre dann allein und müsste sich fragen, was das Leben außer den Kindern sonst noch zu bieten hätte. In vorauseilender Trauer fängt sie an, die Tochter ständig zu filmen, um die wenigen verbleibenden Wochen für immer festzuhalten. Was nicht nur Jade nervt, sondern auch ihre Schwester Lola (Camille Claris). Sie beschwert sich eifersüchtig darüber, dass die Mutter bei Lolas Auszug ganz froh gewesen sei, eine Sorge weniger zu haben.

Die meist schmerzliche Abnabelung der Kinder ist eigentlich Stoff für ein Drama, aber Regisseurin Lisa Azuelos inszeniert den autobiografisch unterfütterten Plot eher als Komödie. Nie verweilt die Kamera auf einem traurigen Gesicht, immer ist sie in Bewegung, mischt sich mitten unter das verrückte Familienleben, das in vielen Rückblenden aufleuchtet. Der Bezug zu den unterschiedlichen Zeitebenen geht dabei fast verloren, aber dadurch zeichnet die flüssige Montage ein intensives Porträt einer quirligen, spontan-verrückten Mutter und ihrer nicht weniger auf den Mund gefallenen Kinder.

Das gängige Bild der Alleinerziehenden ist das der Opfer. Sie wurden verlassen, müssen um Alimente betteln, haben keinerlei Zeit für sich und hecheln ständig dem reinen Überleben hinterher. Nicht so in diesem Film. Héloise hat ihren Mann sehr bewusst verlassen, sich mit Freude für ein Leben mit den Kindern entschieden. Sie hat ihr Restaurant, ihre besten Freundinnen, sie amüsiert sich mit dem Sohn und den beiden Töchtern. Alles erscheint wie ein kunterbunter Abenteuerspielplatz, Streit und (schnell getrocknete) Tränen inklusive. Manche Eltern mögen ihre Vorbehalte gegen diese Art von Kumpelrolle haben und in pädagogischen Ratgebern wird sie gewiss nicht empfohlen. Aber auch wenn „Ausgeflogen“ die Idylle vor allem gegen Ende etwas übertreibt, wirkt die Inszenierung glaubhaft. Das hat neben der autobiografisch verbürgten „Echtheit“ wohl auch etwas damit zu tun, dass wir hier nicht von armen Leuten reden, sondern von wohlhabenden Schauspielerdynastien, was sich auch in der Besetzung niederschlägt. Thaïs Alessandrin in der Rolle der Jade ist die eigene Tochter der Regisseurin, die wiederum die Tochter der Sängerin und Schauspielerin Marie Laforêt („Nur die Sonne war Zeuge“) ist. Der Sohn wird von Victor Belmondo verkörpert, Enkel von Jean-Paul Belmondo. Der wiederum hat mit Marie Laforêt drei Filme gedreht und dürfte mit Schmunzeln registrieren, dass sich die Enkelgeneration erneut vor der Kamera trifft.

„Ausgeflogen“ ist mehr als nur ein Film über das Abnabeln der Kinder. Die Komödie weitet den Blick auf eine gelungene Version der Kumpelpädagogik und auf das Glück, allein erziehende Mutter zu sein. Ohne die sprichwörtliche französische Leichtigkeit und die furios aufspielende Hauptdarstellerin wäre die Geschichte vermutlich zu flach geraten. Aber als Wohlfühlfilm funktioniert die flüssig inszenierte Familienaufstellung allemal.

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Wir vergeben daher 7 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Alamode Film

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Länge: 87 min

Kategorie: Comedy, Drama

Start: 18.07.2019

cinetastic.de Filmwertung: (7/10)

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Ausgeflogen

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 87 min
Kategorie: Comedy, Drama
Start: 18.07.2019

Bewertung Film: (7/10)

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