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Paraíso

Geschrieben von Peter Gutting am 28. Mai 2016

Paraíso

Ausgesprochen fettleibige Menschen sieht man selten im Kino – Gérard Depardieu blieb bisher die prominente Ausnahme. Umso schwerer wiegt die Feinfühligkeit, mit der die mexikanische Regisseurin Mariana Chenillo zwei Verliebte in Szene setzt, für die das Attribut „übergewichtig“ eine Untertreibung wäre.

ParaísoCarmen (Daniela Rincón) und Alfredo (Andres Almeida) bevorzugen rote Jacken und Blusen. Es ist eine pastellige Farbe, mit einem Tick in Richtung Rosa. Das ist kein Zufall. Die Harmonie ihrer Liebe hat etwas unschuldig Kindliches. Sie nennen einander „Bärchen“ und „Speckchen“, lieben gutes Essen und fühlen sich geborgen in ihren Fettpolstern. Niemand nimmt Anstoß an den Pfunden, weder sie selbst noch ihre Familien und Bekannten, denen man allesamt die Sinneslust ansieht. Überhaupt scheint die persönliche und materielle Lage in der Modellsiedlung „Satélite“ auf das titelgebende Paradies anzuspielen – anscheinend eine Insel der Glückseligen in einem von Kriminalität und Korruption gebeutelten Land.

Doch eines Tages bekommt Alfredo ein verlockendes Jobangebot im schicken Mexiko-City. Der Umzug gleicht einem Kulturschock. Unter all den Schlanken und Ranken wirken die Neuankömmlinge aus Satélite wie Besucher von einem anderen Stern. Als Carmen mithört, wie man sie als „Miss Piggy“ verhöhnt, fasst sie einen radikalen Entschluss. Eine Diät muss her, am besten für beide. Doch während bei Alfredo die Pfunde purzeln, bleibt Carmen rund wie eh und je. Für Alfredo ist das kein Problem, wohl aber für das Eheglück.

Paraíso„Paraíso“ mag inhaltlich ein Beziehungsdrama sein, aber formal schlägt der Film einen leichten Ton an. Nichts ist schwer in dieser Selbstfindungskrise, sieht man mal von den gegenteiligen Behauptungen der Waage ab. Aber einfach macht es sich die Regisseurin nicht. Sie haut die Dicken nicht in die Fettpfanne, wie es wohl jede Mainstreamkomödie getan hätte. Stattdessen findet sie visuelle Lösungen, die den Figuren ihre Würde lassen – gerade in subjektiv peinlichen Situationen. Zum Beispiel beim unvermeidlichen Gang ins Fitnesszentrum. Das Fahrradtraining lässt die Kamera links liegen, hier hätte die geplagte Carmen wohl eine allzu unglückliche Figur gemacht. Stattdessen folgen wir ihr zum Yoga-Kurs. Dort tut sich sich zwar genauso schwer, aber die Verrenkungen der durchgestylten Hipster-Körper sehen in ihrer vermeintlichen Perfektion mindestens genauso lachhaft aus.

Schön auch, dass „Paraíso“ den Spieß nicht völlig umkehrt und keinen Lobgesang hemmungsloser Völlerei anstimmt. Sowieso ist das Diätenthema zwar unterhaltsam, aber nicht der Kern der Story, die auf einer Kurzgeschichte von Julieta Arévalo basiert. Im eigentlichen Zentrum steht die Frage, welche Belastungen auf eine Ehe zukommen, wenn der eine Partner eine Veränderung durchmacht. Trennen sich die Wege oder geht man gemeinsam durch dick und dünn?

ParaísoDie Bilanz des liebevoll zubereiteten Selbstfindungs-Menüs muss natürlich bis zum Dessert offenbleiben, wird aber mit einer sehenswerten Anteilnahme, einem feinen Humor und einer guten Portion Romantik serviert. Eine Riesen-Entdeckung ist dabei Daniela Rincón, die ihre erste Hauptrolle spielt. Ihr stilles Leiden ist herzergreifend und in keinem Moment auf das Klischee des gemobbten Dickerchens reduziert. Stattdessen verrät ihr Mienenspiel die Kraft, jederzeit auf stille Reserven an Selbstachtung und Lebensfreude zurückgreifen zu können. Dass man jederzeit mit ihr lachen kann, aber niemals über sie, ist auch eine Leistung ihrer Schauspielkunst – und nicht allein dem Taktgefühl von Kamera und Schnitt geschuldet.

In ihrem zweiten langen Kinofilm gelingt Mariana Chenillo eine kleine, aber feine Wohlfühlkomödie für Arthouse-Freunde. Die sommerlich leichte Inszenierung spielt geschickt mit Details und bietet Identifikationsangebote weit jenseits des Diäten-Wahns. Die Selbstfindungsbotschaft ist zwar nicht neu, wird aber mit viel Charme und Herzblut auf die Leinwand gezaubert.

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Wir vergeben daher 7 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Arsenal

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Paraíso

Länge: 105 min

Kategorie: Romance

Start: 30.06.2016

cinetastic.de Filmwertung: (7/10)

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Info

Paraíso

Paraíso

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 105 min
Kategorie: Romance
Start: 30.06.2016

Bewertung Film: (7/10)

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