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Winterschlaf

Geschrieben von Peter Gutting am 22. Oktober 2014

Winterschlaf

Viele Worte hat Nuri Bilge Ceylan in seinen früheren Filmen nicht gemacht. Sie bestachen, wie zum Beispiel „Drei Affen“, fast ausschließlich durch die vieldeutige Beredtheit ihrer Bilder. Das hat sich im neuen Werk des türkischen Filmemachers gründlich geändert. Selten wurde so viel und so kunstvoll gesprochen in einem Film, der streckenweise einem Theaterstück gleicht. Und das nicht von ungefähr. Mit der Verbeugung vor dem russischen Dramatiker Anton Tschechow gelingt Ceylan seine bisher reifste, ausgefeilteste und zugänglichste Arbeit. Kein Wunder, dass es dafür in Cannes die „Goldene Palme“ gab.

WinterschlafNatürlich ist die Länge des Films ein Thema. Dreieinviertel Stunden, dafür braucht man gute Gründe. Man könnte argumentieren, dass der Zuschauer für sein Geld einen Film und ein Bühnenstück in einem bekommt. Oder man mag daran erinnern, dass ein ausgereifter Tschechow-Abend auch seine drei Stunden in Anspruch nimmt. Wobei Nuri Bilge Ceylan und seine Frau, Co-Autorin Ebru Ceylan, nicht einfach eines der Tschechow-Stücke verfilmt haben. Vielmehr stützen sie sich auf drei Kurzgeschichten, die sie mischen, verändern und mit eigenen Texten zu einem Ganzen formen. So entsteht ein vielschichtiges Bild von drei Intellektuellen in der Falle dessen, was man Leben nennt – mit aktuellen Bezügen und zugleich universell.

Getragen wird das Sittenbild von Aydin (Haluk Bilginer), einem ehemaligen Schauspieler, der jetzt im zentralanatolischen Kappadokien ein Hotel betreibt. Geerbt hat er das Anwesen von seinem Vater, zusammen mit weiteren Häusern und Landbesitz. Zusammen bringt das so viel ein, dass Aydin sich den Verwalter Hidayet (Ayberk Pekcan) leisten kann, der ihm zugleich als eine Art Dienstmädchen dient. Wie willkürlich und selbstsüchtig er den armen Mann hin- und herscheucht, merkt der reiche Erbe freilich nicht. Lieber schreibt er in der Lokalzeitung wöchentliche Kolumnen, die der moralischen Aufklärung und Besserung der Landbevölkerung dienen sollen. Wahrscheinlich würde Aydin seine Selbstherrlichkeit mit ins Grab nehmen. Wären da nicht seine Schwester Necla (Demet Akbag) und seine jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen). Besonders letztere scheint unter der gut getarnten Tyrannei mit jeder Faser ihrer gedemütigten Seele zu leiden.

WinterschlafEs sind – wie bei den Tschechow-Stücken – nicht die klar strukturierten Konflikte und klassisch gebauten Handlungsbögen, die uns dazu veranlassen, den in der Sackgasse steckenden Menschen beim Leiden zuzusehen. Es sind vielmehr die atmosphärischen Spannungen, die räumlich spürbaren Seelenschwingungen, die einer guten Inszenierung solcher Texte ihre Zeit lassen, ohne zu langweilen. Ceylans Film hat einiges davon. Kaum registriert man, dass die Kamera in den warm ausgeleuchteten Innenräumen minutenlang in derselben Einstellung verharrt – so sehr entfaltet die Verteilung der Figuren im Raum, der spannungsgeladene Abstand der Sprechenden einen eigenen Sog. Das funktioniert streckenweise auch ohne Großaufnahmen, und doch setzt „Winterschlaf“ seine filmischen Mittel so souverän wie unmerklich ein. Die Verbeugung vor der Bühne, ihrer literarischen Sprache und ihren Akteuren mag das eine sein. Abgefilmtes Theater wäre jedoch etwas völlig anderes. Und Nuri Bilge Ceylan beweist auf faszinierende Weise, wie man die Essenz des Theaters mit den Möglichkeiten der Filmsprache kongenial verbinden kann.

Dazu zählt natürlich der Schauplatz, der wie immer bei Ceylan eine zentrale Rolle spielt. Die Außenszenen betonen die Fremdheit der Figuren in einer großartigen, erhabenen Landschaft mit ihren bizarren Felsformationen und ihren vulkanisch geprägten Kegeln, in die sich hier und dort menschliche Behausungen höhlenartig einschmiegen. Schnell denkt man da an die Reflexionen Tschechowscher Figuren über die Natur, die lange vor uns da war und auch lang nach uns da sein wird. Aber so einfach ist das nicht mit den Metaphern in Ceylans Bildsprache. Immer bewahren sie ihren Überschuss, einen Mehrwert, der sie nicht durch eindimensionale Zuordnungen ihrer Schönheit beraubt.

WinterschlafGenauso verhält es sich mit den Themen, die der Film anreißt. Natürlich hat man selten eine derart subtile, realitätsnahe und schmerzliche Entzauberung eines autoritären Charakters erlebt, der sich hinter dem Schafspelz menschheitserlösender Güte versteckt. Und dennoch beinhalten solche Sinndeutungen, die jeder Zuschauer ganz individuell vornehmen wird, keine endgültigen Wahrheiten. Sieht man den Film ein zweites Mal, wird man womöglich ganz anderes darin entdecken.

Mit „Winterschlaf“ verleiht Nuri Bilge Ceylan seiner Liebe zu Tschechow einen zauberhaften, ebenso melancholischen wie realistischen Ausdruck. Aber er versteckt sich nicht hinter dem Künstlerkollegen, sondern führt sein eigenes Werk formvollendet weiter. Kinobesitzer sollten sich an die gute alte Theatertradition erinnern und den Zuschauern eine Pause mit Getränken und Snacks gönnen.

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Wir vergeben daher 7,5 von 10 Filmpunkten.

Copyright: Weltkino, Nuri Bilge Ceylan

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Winterschlaf

Länge: 196 min

Kategorie: Drama

Start: 11.12.2014

cinetastic.de Filmwertung: (7,5/10)

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Info

Winterschlaf

Winterschlaf

Geschrieben von Peter Gutting

Länge: 196 min
Kategorie: Drama
Start: 11.12.2014

Bewertung Film: (7,5/10)

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