Vermutlich muss man regelrecht besessen sein von einem Thema, wenn man gleich seine ersten Filme als Trilogie anlegt. Florian Eichinger will es wissen – und zwar genau: wie die Familie Menschen formt, wie alte Wunden auch nach vielen Jahren nicht vernarben. Besonders, wenn Gewalt in jeglicher Form im Spiel ist, nicht nur in extremen Ausprägungen, sondern auch als psychischer Druck. Gewählt hat er für seine drei Filme die drastischen Varianten – Schläge, sexueller Missbrauch. Daraus macht er jedoch keine Schocker, sondern vermeidet Klischees und explizite Darstellungen. Das war schon bei seinem Debüt „Bergfest“ (2008) so. Nun hat er die Kunst des filmischen Kammerspiels weiter verfeinert.
Der Einstieg ist furios: Zwei kleine Jungen sind allein zu Haus. Sie nippen an der verbotenen Flasche im Schrank. Aber der Vater kommt überraschend zurück. Er riecht offensichtlich den Schnaps, sagt aber nichts. Stattdessen setzt er sich zu den Jungs an den Tisch, holt die Flasche und drei Gläser – so, als wäre es ganz normal, dass sich der Vater mit den Kleinen einen genehmigt. Aber liegt es etwas Dämonisches in der Luft. Die Wut des Mannes, seine Lust an manipulativen Strafaktionen, ist mit Händen zu greifen.
Was dann passiert, wissen wir nicht. Aber die Dissonanz von Schein und Sein klingt noch lange nach. Sie wird eigentlich nie verschwinden, wenn wir die Brüder als erwachsene Männer wieder treffen. Marten (30) und Volker (27) haben sich viele Jahre nicht gesehen. Sie arbeiten in verschiedenen Städten, fernab vom Elternhaus auf der Nordseeinsel, das seit dem Tod des Vaters und der Gefängnisstrafe für die Mutter leer steht. Doch nun kehrt Marten (Martin Schleiß) dorthin zurück. Er hat Volker (Daniel Michel) eingeladen, ein paar Tage zusammen zu verbringen. Den Älteren plagen Schuldgefühle. Immer hat er nur zugesehen, aber nicht eingegriffen, wenn der jähzornige Vater seine Wut an dem Kleinen ausließ. Aber Volker will von Vergangenheitsbewältigung nichts wissen. Er möchte am liebsten das Haus verkaufen, nach vorne blicken und es bei dem Schlussstrich belassen, den erst längst gezogen hat. Doch so einfach, wie sich die Brüder das Treffen vorgestellt haben, kann es nicht werden. Zu viele Leichen liegen im Keller des heruntergekommenen Anwesens.
Manchmal könnte man denken, dieses Drama im Stil der Theaterstücke von Henrik Ibsen könnte auch auf einer Bühne funktionieren. So kunstvoll verzögert legt es nach dem Zwiebelprinzip Schicht für Schicht einer komplizierten, von unbewältigten Konflikten vergifteten Beziehung frei. Was es mit der Mutter eigentlich auf sich hat, warum sie im Gefängnis sitzt, erfährt man zum Beispiel erst am Anfang des zweiten Filmdrittels. Das verleiht dem dokumentarisch fotografierten Kammerspiel eine Spannung, die die äußere Statik der Handlung mit einer inneren Dynamik auflädt und die fehlende Action mühelos kompensiert. Und natürlich ist es nicht Theater, was Regisseur und Autor Florian Eichinger (übrigens nicht verwandt mit Bernd Eichinger) hier aufführt. Davon zeugen nicht allein die intensiven Großaufnahmen, sondern auch die Bezüge aufs Krimigenre, die „Nordstrand“ gegen Ende ansteuert – allerdings nur, um die gängigen Erzählmuster durch gezielte Auslassungen zu brechen.
Mit seinen ästhetischen und dramaturgischen Mitteln zwingt der Autorenfilmer den Zuschauer, genauer hinzuschauen. Nichts ist, wie man es erwarten würde. So wirkt zum Beispiel das vermeintliche Opfer robuster als der zuschauende „Mittäter“. Aber kaum hat man sich an einen solchen Eindruck gewöhnt, werden die alten Wunden wieder sichtbar. Und wieder ein paar Sequenzen später zeigt sich das Opfer sogar als Täter, nämlich als jemand, der die erlittene Gewalt an völlig Unbeteiligten auslässt. Auch die Beziehung der Brüder folgt nicht der erwarteten Versöhnung mit den Dämonen der Vergangenheit. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass auf einen Schritt nach vorne immer gleich ein Rückschlag folgt. Dennoch versinkt „Nordstrand“ nicht in Düsternis. Hoffnung und Skepsis halten sich die Waage – wie im wirklichen Leben.
Man darf gespannt sein, wie der letzte Teil von Eichingers Trilogie ausfallen wird. Das Drehbuch ist fertig und beschäftigt sich mit dem wohl spektakulärsten Aspekt familiärer Traumata. Es geht um eine Mutter, die ihren Sohn sexuell missbraucht.
Mit seinem zweiten Film „Nordstrand“ etabliert sich Florian Eichinger als Spezialist für kinematografische Kammerspiele. Durch seine ausgeklügelte Dramaturgie hält der Film den Zuschauer trotz beschränkter Schauplätze und der Konzentration auf wenige Personen bei der Stange.